Moderato cantabile (zum Buch von Marguerite Duras)

Texte

Potenziale des Menschen
im Werk von Siegrun Appelt Moderato cantabile
Christiane Meyer-Stoll

“Reading is a two-way process .... television viewing is a one-way street.”
(Mary Winn: “The plug-in drug”, New York 1985)

Siegrun Appelt bittet neun Personen, das Buch Moderato cantabile von Marguerite Duras zu lesen und sich an ihrer neuen Arbeit als Mitwirkende zu beteiligen. Vorerst gibt die Künstlerin keine weiteren Hinweise.
Was geschieht während des Lesens? In welches Verhältnis tritt der Leser zum Gelesenen und darüber hinaus zur Verfasserin? Das Gelesene verwebt sich, schlingt sich ein in die Gefühle, die Erfahrungen und das Wissen des Lesenden. Ein Geflecht aus zwei Welten bildet sich und öffnet neue Vorstellungsräume. Gibt es Schnittstellen, Überlagerungen oder Anknüpfungspunkte der Welt des Lesers mit der Welt der Autorin, die die Bildung einer neuen Wirklichkeit ermöglichen? Wie weit lässt sich die eigene Vorstellungswelt erfassen?
Die neun Leser des Buches beschreiben anhand von Worten und Zeichnungen in einem ersten Gespräch mit der Künstlerin ihre Vorstellungen der Räume, die die Orte der Handlung von Moderato cantabile bilden.
Was fordert Siegrun Appelt von ihren Mitwirkenden: eine Konkretisierung des Vagen? Eine Manifestierung des Unfassbaren? Was wirkt? Was löst innere Bilder aus? Und gibt es überhaupt Bilder für die Räume, die im Buch die Orte für die Handlung bilden? Marguerite Duras beschreibt die Orte äußerst spärlich, ja fast gar nicht. Doch die gesamte Handlung findet an drei Orten statt: An zwei nahe beisammen gelegenen Orten am Hafen, im Zimmer der Klavierlehrerin und in einem Café, in dem ein Mord stattgefunden hatte, und in einer Villa, die einen langen Fußweg entfernt am Rande der Stadt liegt. Anstelle von ausführlichen räumlichen Beschreibungen steht die Beschreibung des Atmosphärischen – Töne, Düfte und Licht und im Besonderen das Licht der untergehenden Sonne verbinden und durchdringen das Geschehen in Moderato cantabile.
Die neun Teilnehmer verbalisieren und zeichnen die Räume, die nicht beschrieben sind, gegenüber einer aufzeichnenden Kamera.
Das Wort “Café” ruft bereits viele Räume im Leser von Moderato cantabile hervor, die Angabe eines Cafés am Hafen weit spezifischere, die Beschreibung von Arbeitern, die aus einer nah gelegenen Gießerei nach Arbeitsschluss dort für ein Glas Wein einkehren, verdichtet zunehmend ein vorgestelltes Bild und so fort. Ohne dass für den Leser eine bewusste Lücke bzw. auch Irritation entsteht, können weitere Angaben im Buch offen bleiben. Die Orte bilden die Hintergründe des Geschehens, aber es braucht sie eigentlich nicht, lediglich als Basis zur Ortung, besonders auch zur sozialen Ortung des Geschehens. Die Orte als konkrete Räume sind unwesentlich. Das wahre Geschehen findet im Menschen selbst statt. Die Menschen sind der Mittelpunkt. In ihre ganz und gar nicht leicht verständlichen Gefühle, Gedanken, Gespräche werden wir während des Lesens hineingeführt. Ihre Innenwelten stoßen auf die unseren.
Im Gespräch mit Siegrun Appelt werden von den Teilnehmern konkrete Räume beschrieben und dargestellt.
Was prägt einen Ort in unserer eigenen Wahrnehmung? Was lässt einen Ort lebendig werden? Ist es eine persönliche Verbindung oder Erfahrung mit dem Ort? Zum Beispiel: Ich fahre im Zug an einer Stadt vorbei, in der ich jemanden kenne. Meine Gedanken werden sich dieser Person und den Erlebnissen mit ihr zuwenden, oder ich erinnere mich an ein Erlebnis in der Stadt. Erst diese Gedanken lassen den Ort für einen selbst lebendig werden. Die Orte des Buches erschaffen wir während des Lesens und danach – in und mit unserem Bewusstsein und unseren Erfahrungen.
Anhand der verbalen und zeichnerischen Äußerungen werden in einem nächsten Schritt in Zusammenarbeit mit dem Computergrafiker Ivo Apollonio die Vorstellungsräume der Teilnehmenden visualisiert. Es entstehen am Computer gezeichnete und errechnete Phantombilder.
Aus dem Unfassbaren ins Fassbare transformiert. Mögliche Orte der Handlung entstehen. Dabei werden zum einen die Möglichkeiten einer Visualisierung offenbar, doch zugleich wird auch die Beschränkung und die Schwierigkeit, ja fast Unmöglichkeit eines Visualisierungsvorganges bewusst. Sind es die Räume der Vorstellung, die wir nun vor uns sehen? Alles geht über Kommunikation und die eigene Fähigkeit, sich zu verbalisieren und zeichnerisch zu visualisieren. Und wie weit kann der Empfänger die Mitteilungen umsetzen? Kommunikation ist eines der Stichwörter für die Arbeit Moderato cantabile von Siegrun Appelt. Frei nach Karl Jaspers meint dies einen Vorgang, in dem das Ich als Selbst dadurch wirklich wird, dass es sich im Prozess mit seinem Gegenüber offenbart.
Die Musikzimmer und Cafés entstehen virtuell. Sie sind menschenleer. Es sind keine Spuren menschlicher Benutzung und damit der Zeit erfasst.
Die Räume werden sowohl für den jeweiligen Teilnehmer als auch für andere konkret. Dabei beginnt langsam das visualisierte Bild am Computer das Bild der eigenen Vorstellungswelt zu überlagern. Es gewinnt eigenständige Gegenwart, wohingegen das innere Bild der Vorstellung zur Erinnerung verblasst. Zugleich verdichten sich im Prozess Objekte und Räume zu Zeichen des geistig Erlebten – das heißt, die visualisierten Objekte und Räume werden zu freigelassenen Stellvertretern verwandelt. Sie kann der Betrachter nun wiederum in seine Vorstellung aufnehmen und in seine Vorstellungswelt hineinverwandeln.
In der Ausstellung begegnet der Besucher zehn Lese-Erfahrungen, taucht ein in zehn verschiedene Gesprächsaufzeichnungen und deren Transformationsprodukte (Musikzimmer und Cafés) als Computervisualisierungen.
Was wir an, in und mit dieser Arbeit erleben, ist die „Privatheit der menschlichen Existenz“(1). Jedes Gespräch ist einzigartig, jedes Café und Musikzimmer individuell. Das menschliche Gehirn, das Sein, die menschliche Gefühls- und Vorstellungswelt sind auch heute noch – selbst in der Welt der Wissenschaft – ein großes Geheimnis. Staunend können wir die Eigenart jedes einzelnen Menschen, die selbst durch die vielen Transfers und besonders auch durch die mediale Übertragung, die eine Normierung, Stilisierung und auch Gleichförmigkeit bewirkt, betrachten. Das scheinbar Machbare und Fassbare jeglichen Zugriffs mitsamt der zunehmenden abstrakten Kontrollfunktionen heutigen Lebens erweist sich in dieser Arbeit als nicht haltbar. Vielmehr wird deutlich, dass das Potenzial des Menschen seine geistige, persönlich-individuelle Schöpferkraft ist. Die Frage, die die Arbeit damit aufwirft, ist daher: Wie können wir dieses Potenzial heute wieder als etwas Großes verstehen? In ihrer Tiefe liegt der Arbeit die Frage nach dem schöpferisch-kommunikativen Prozess an sich zu Grunde.

(1) Zit. nach Joseph Brodsky: Das Volk muss die Sprache der Dichter sprechen. Rede bei der Entgegennahme des Nobelpreises für Literatur, in: Joseph Brodsky: Flucht aus Byzanz. Essays. München, Wien 1988, S. 9.