Moderato cantabile (zum Buch von Marguerite Duras)

Texte

Moderato cantabile in Linz. Stratigrafische Anmerkungen
Bernhard Kellner

Ein Raum, der nur aus Schwellen besteht. – Fünf Projektionswände, neun Monitore und Lautsprecher, neun Sitzmöbel mit eingebauten Hörstationen. Der technische Aufwand in Siegrun Appelts Moderato cantabile scheint gering. Auf den Projektionswänden (2,15 x 3,80 m) flimmern Klavierzimmer und Hafencafés – Bilder wie angehaltener Atem. Einem Roman entnommen, durch menschliche Erinnerungsarbeit und technische Maschinerien hindurch zu neuem Leben erweckt, kommunikativ angeordnet: Die Bilder wirken, als wären sie in ein Gespräch verwickelt. Aus stark verlangsamten und asynchronen Überblendungen werden immer neue Bildkonstellationen generiert, die einander relativieren oder intensivieren, Ähnlichkeit oder Unterschiedenheit hervorheben.
Die neun Monitore vermitteln zunächst nur ruhiges, konzentriertes Stimmengewirr; die Projektteilnehmer schildern individuelle Raumerfahrungen. Einzelne Wörter, Satzfragmente stechen heraus, mit jedem Schritt gelangt man in den Einzugsbereich eines nächsten informativen Details, das den Eindruck des Ganzen modifiziert. Bei genauerem Hinsehen erschließen sich unterschiedlichste Erinnerungstechniken, Denkbewegungen, Produktionsvorgänge, die Sprecher suchen ihre zerebralen Bahnungen nach Hafencafés und Klavierzimmern ab. Aus dem Zusammenwirken des Sichtbaren und Hörbaren ergeben sich Resonanzen oder Dissonanzen.
Die neun Sitzmöbel, Holzkuben mit Platz für zwei Personen, laden ein zu einer gleichermaßen entspannten wie dialogischen Rezeptionshaltung. Mittels Kopfhörer lässt sich die Geräuschkulisse ausblenden; eine Aufnahme aus Beat Furrers ebenfalls durch Moderato cantabile angeregte Oper Invocation stellt das Erschaute in einen klanglichen Kontext.
Die heterogenen Elemente der Ausstellung agieren durch den Betrachter hindurch. Indem er sich an das Geschehen koppelt, wird er selbst zum tätigen Gefüge in Appelts Kompositionsplan. Der autopoietische Effekt der Anordnung beginnt zu greifen, der Kreislauf setzt sich fort: Jetzt sind es nicht mehr die Schauplätze aus Marguerite Duras’ Roman, die eine flüchtige Vorlage für ausschweifende Re/Konstruktionsvorgänge liefern, jetzt ist es die Ausstellung selbst.

Räumliche Überlagerungen, geschichtete Zeit. – Welche Ereignistypen wirken in diese Raumkomposition ein? Inwieweit lassen sich einzelne Schichtungen isolieren, gesondert beschreiben? Woraus nährt sich der Schwung, der die verschiedenen Konsistenzebenen durchläuft und die spürbare Verschärfung der Zeitwahrnehmung auslöst? Der Versuch, diese Ausstellung zu beschreiben, führt über eine stratigrafische Annäherung, eine frei assoziierende Untersuchung einiger einander überlagernder Formationen.
Im Spannungsfeld der projizierten Bilder und Videointerviews atmen Vergangenheitsschichten: die Zeit, in der Marguerite Duras den Roman schrieb; die Zeit der erzählten Geschichte – des Mordes, seiner obsessiven Rekonstruktion, des Ozeans, der dem Text den Rhythmus vorgibt… –; die Zeit des Leseprozesses und seiner punktuellen Vergegenwärtigung usw. usf. Jede Schichtung hält sich an eigene formale Vorgaben, verfügt über je spezifische Verteilungen von Kohärenz, Brüchigkeit, Durchlässigkeit. Immer wieder kommt es zu überraschenden Verflüssigungen, Konfusionen: „Die Konfusion verbindet, vervielfacht, führt zusammen, sie löst nicht auf und sie trennt nicht, sie lässt das Unanalysierte zusammenfließen: Das ist die Zeit [...] Schon lange stelle ich mir die Zeit als einen Knoten oder Verteiler oder Zusammenfluss mehrerer Zeiten vor, deren jede durch ein räumliches Schema gefasst werden kann.“(1)

Der Griff ins kulturelle Gedächtnis. – Paris in den späten 50ern. Eine neue Autorengeneration betritt die Bühne. Was sie verbindet, ist der Grund legende Zweifel an tradierten Erzählformen. Die Sprache befreit sich von jedem Ornament, zielt auf eine tendenziell metaphernfreie Beschreibung der Dinge, die ein Mensch sieht, und der variablen Konstellationen, in die sie treten. Der allwissende Erzähler wird außer Kraft gesetzt, der Kontrakt zwischen Autor und Leser neu formuliert: Im raumzeitlichen Universum des Textes werden beide zu Verbündeten in der Rekonstruktion von Bewusstseinzuständen und subjektiver Zeiterfahrung; Lücken in der Erzählung markieren zugleich Leerstellen im Zeitbewusstsein. In diesem Umfeld des nouveau roman entsteht auch Duras’ Roman über die sukzessive Identifikation der Heldin mit einem Verbrechen, dessen zufällige Zeugin sie wurde; die Geschichte der schrittweisen Übersetzung eines äußeren Ereignisses in durchlebte Erfahrung. Siegrun Appelt greift dieses Buch unbefangen aus der Gesamtheit der kulturellen Werte, die in den traditionellen Wissensspeichern aufbewahrt werden, heraus. Sie isoliert zwei Schauplätze und deren Konnotationsfelder, setzt sie fortwährenden Transformationen aus und entlässt sie zuletzt als selbsttätige Wiedergänger in heutige Gegenwart.

Gedächtniskunst. – Padua, 1592: Filipo Gesualdo Minor fasst in seiner Plutosofia die Errungenschaften von zweitausend Jahren Gedächtniskunst zusammen. Das Unterfangen, die Erinnerung dem unvermeidbaren Schicksal ihrer Zersetzung zu entreißen, geht auf das sechste vorchristliche Jahrhundert zurück, auf den Dichter Simonides von Keos. Die Gedächtniskunst hinterfragt die Bedingungen des Erinnerns und entwirft Techniken, um „räumlich und zeitlich von unseren Sinnen entfernte Dinge durch lebendige und klare Bilder zu vergegenwärtigen.“(2) Gesualdo definiert den Ort als fixen Träger der Bilder und das Bild bzw. die Idee als deren tragende Säulen. Die Bilder/Ideen sind Simulakren, flüchtige Scheinbilder, die, um klar und deutlich in Erscheinung treten zu können, an den Ort gebunden, domestiziert werden müssen. Dazu schlägt er einen 17 Punkte-Katalog vor, der von der Fixierung des Ortes im Bekannten über Proportionierung und Ausleuchtung bis hin zur Handhabung von Ähnlichkeits- und Unterscheidungsmerkmalen reicht. Für den französischen Dichter und Mathematiker Jacques Roubaud, der Gesualdos Plutosophie für sein Buch Dichtung und Erinnerung aktualisiert hat, ist die Gedächtniskunst nicht nur der Motor jeder Dichtkunst, sondern von allem Anfang an Übersetzungsarbeit: „Das Konstitutionsprinzip der Bilder ist die Übersetzung, eine geregelte und systematische Übersetzung der Gesamtheit der Dinge und Ereignisse in der Welt in visuelle Erscheinungen. Denn die Gedächtniskunst ist vor allem eine Kunst des Sehens.“(3)
Dieses Feld beschreiten die neun Projektteilnehmer, wenn sie sich auf je verschiedene Weise an den Entwurf ‚ihrer’ Schauplätze machen. Einige beginnen systematisch mit einer Grundrisszeichnung, andere gehen vom Detail aus und erschließen sukzessive den umgebenden Raum, manche scheinen den Entwurf von den Innenseiten ihrer Augenlider abzulesen. Inwiefern sich die Gedankengänge im Augenblick ihres Vollzugs tatsächlich auf ein vorangegangenes Bild beziehen, bleibt offen: „Vergegenwärtigen: Heißt das erneut vorstellen? Dasselbe noch einmal? Oder ist es etwas völlig anderes als eine Wiederbelebung der ersten Begegnung? Eine Rekonstruktion? Aber worin unterscheidet sich eine Rekonstruktion von einer imaginären oder gar frei erfundenen Konstruktion, das heißt letztlich von einer Fiktion?“(4)

Leerstellen, Intervalle… – „Ob ich glaube, dass es zwei Fenster gibt?“, fragt ein Projektteilnehmer, „es ist ein bisschen düster, deshalb komme ich von den zwei Fenstern wieder ab. Also lassen wir hier nur ein Fenster sein.“ Blitzartig trifft er eine Entscheidung aus der bilderlosen Zwischenschicht, der Sphäre des „Gründungsvergessens“ (Ricœur). Die elementare Improvisation findet statt: Überwindung der Leerstelle, Sprung über die gedächtnislose Seite des Augenblicks, die etwas wie reine Potenzialität freisetzt. Der vernünftige Gebrauch des Vergessens kennzeichnet jede Erinnerungsarbeit. Und gerade in den Hohlräumen, Intervallen, den jenseits ästhetischer Kontrolle liegenden Zonen, scheint das produktive und kommunikative Moment der in Moderato cantabile versammelten Vergegenwärtigungsprozesse zu liegen. Siegrun Appelt bindet diese Kraftströme, die den schwarzen Löchern im Zeitbewusstsein entspringen, in ihr Ensemble ein. Aus den Druckunterschieden zwischen Schichtung und Zwischenraum, Sichtbarem und Unsichtbarem, Narration und Aussparung entsteht der Wind, der die Elemente dieser Ausstellung, den Betrachter eingeschlossen, umweht und der noch das Aroma der Atlantikküste in sich trägt.

Der digitale Sprung. – Romanlektüre, Vergegenwärtigungstechnik, Raumkomposition: Sie alle streben auf den Punkt der digitalen Umrechnung zu. Mit der informatischen Homogenisierung der ‚inneren’ Bilder gibt die Künstlerin das entliehene Material, dem sie den Stempel ihrer Freiheit aufgedrückt hat, dem kulturellen Speicher zurück. Die Gedächtnistechnologie nimmt sich ihrerseits Freiheiten heraus: Wohin die Imagination der Projektteilnehmer auch reichen mag, Pixel sind bereits dort; das Speichermedium bringt seine eigene Regel und Wahrnehmung ins Spiel. „Die Praxis mit elektronischen Gedächtnissen zwingt uns, aller hergebrachten Tradition zum Trotz, das Erwerben, Speichern, Prozessieren und Weitergeben von Informationen als einen Prozess zu erkennen, der sich zwar auf Gegenstände stützt (z. B. auf computer hardware oder auf menschliche Organismen), aber diese Gegenstände gewissermaßen durchläuft [...] Wir haben uns als Knotenpunkte eines Netzes anzusehen, durch dessen Fäden (seien sie materiell oder energetisch) Informationen strömen.“(5) Und das ist die Metaebene in Siegrun Appelts außersprachlicher Dichtkunst: Die Geschichte der medialen und technologischen Bedingtheit von Erinnerung.

Gedächtnis, lokalisiert, visualisiert. – Linz 2004: Zeitlich und räumlich Entferntes aufs Äußerste zugespitzt im Hier und Jetzt, größtmögliche Ausdehnung in maximaler Verdichtung: punctum – verstörendes Moment, zufälliger Schnitt, der einen besticht, verwundet und trifft. Etwas wie „reine Gegenwart“ wird spürbar, die Gründung der Zeit, das Potenzial des Augenblicks.
Der Betrachter der Ausstellung klinkt sich als aktives Gedächtnis in die von der Künstlerin präfigurierte interzerebrale Zone ein. Und wenn er nach dieser irritierenden Auseinandersetzung mit Zeit in die noch winterliche Linzer Altstadt hinaustritt, wird allmählich klar, dass hier auf spielerische und im ursprünglichen Sinn poetische Weise gelang, was den Wissenschaften verwehrt blieb: die modellhafte Lokalisierung und Visualisierung des Gedächtnisprozesses.

(1) Michel Serres: Die fünf Sinne. Eine Philosophie der Gemenge und Gemische, Frankfurt am Main 1993, S. 233; aus dem Französischen von Michael Bischoff.
(2) Filipo Gesualdo Minor: Plutosofia, Padua 1592; zit. nach: Jacques Roubaud: Dichtung und Erinnerung. Die Erfindung des Sohnes von Leoprepes, Wien-Lana 1996, S. 15; aus dem Französischen von Alma Vallazza.
(3) Ebd., S. 20.
(4) Paul Ricœur: Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern – Vergessen – Verzeihen, Göttingen 1998, S. 31; aus dem Französischen von Andris Breitling und Hendrik Richard Lesaar.
(5) Vilém Flusser: Gedächtnisse. In: Ars Electronica (Hrsg.): Philosophien der neuen Technologie. Berlin 1989, S. 51f.