Moderato cantabile (zum Buch von Marguerite Duras)

Texte

Erlesene Architekturen
Marguerite Duras’ Moderato cantabile als Testfall der Imagination
Vanessa Joan Müller

Der filmische Raum ist ein spezieller Raum: Stets fragmentiert, ist er dennoch Träger verschiedenster Atmosphären und emotionaler Dispositionen. Was die Kamera erblickt, wird zur Membran der Empfindungen jener, die sich in dem Raum befinden, in ihm leben, ihn durchqueren. Die mise en scène, die nicht allein das räumliche Setting des Films meint, sondern das komplexe Zusammenspiel von Ort, Kameraeinstellung, den Objekten und ihrer Bewegung, ist deshalb einerseits konkret, andererseits aber auch in einer Weise konnotativ aufgeladen, in der jedes Detail für etwas anderes steht. Möbel, Bilder, geschlossene Fenster oder solche mit Ausblick sind nicht sie selbst, sondern semiotisierte Oberflächen, in denen sich das unsichtbare Innere der Bewohner spiegelt.
In den Filmen von Marguerite Duras gibt es oft ein widerstreitendes Nebeneinander der Räume und der Menschen, die in ihnen zuhause sein sollten. Die Kamera zeigt Häuser, Villen und dazugehörige Parks, doch die Tonspur spricht insistierend von einem anderen unsichtbaren Ort, der nahe und dennoch unerreichbar fern zu sein scheint. Diese Disjunktion zwischen visuellem und akustischem Bild, dem sichtbaren Raum und dem Raum der Stimmen, verkörpert den Wunsch nach einem Anderswo, an dem der Widerspruch zwischen Sein und Wollen in der Metaphorik des fließenden, sich stets erneuernden und Geschichte auslöschenden Raumes aufgehoben ist. Dass dieser eigentlich imaginäre Ort meist ein maritimer ist, ein Ort am Meer, legt eine Lesart der Duras’schen Räume nahe, die tiefer geht als die Dinge an sich.(1)
Gilles Deleuze hat auf diese mehrfache Aufladung des Hauses in den Filmen von Duras nachdrücklich hingewiesen. Das Thema des Hauses, so Deleuze, „ist für den Film nicht nur deswegen wichtig, weil die Frauen, in jeder Bedeutung des Wortes, die Häuser ‘bewohnen’, sondern weil die Passionen die Frauen ‘bewohnen’.“(2) Das Haus bildet den Korpus einer emotionalen Verfasstheit, von der die Frauen sich lösen wollen. Die Protagonistinnen der Filme der Duras sind deshalb stets auf der Flucht – vor sich selbst, aber auch vor der Umgebung, die ihr soziales Umfeld repräsentiert. Sie verlassen ihre Häuser und suchen andere, anonymere Orte wie Bars und Cafés auf, an denen sie fremd, gerade deshalb aber näher bei sich selbst sind. Nathalie Granger oder Vera Baxter sind solche vor der Konvention Flüchtende, die Orte ohne Geschichte suchen, an denen sie sich verlieren können. „Zweifellos haben Haus und Park schon die Mehrzahl der Eigenschaften eines beliebigen Raums: die Leere und die Abtrennungen. Aber man müsste das Haus verlassen, es abreißen, damit sich der beliebige Raum auf der Flucht – und nirgends sonst – errichten kann, während gleichzeitig der Sprechakt zum ‘Fortgehen und Fliehen’ gezwungen ist.“(3)
Marguerite Duras’ Roman Moderato cantabile ist nicht von Duras selbst verfilmt worden, sondern von Peter Brook.(4) Gleichwohl passt auch seine Verfilmung in dieses auf der Macht des Hauses basierende Szenario aus Angst und Begierde, Kommen und Gehen: Dem Widerstreit von Mäßigung und Leidenschaft, artikuliert im „moderato cantabile“ der Klaviersonate von Diabelli, die Anne Desbaresdes’ Sohn immer wieder übt. Wenn sie selbst sich in das Café am Hafen begibt, ist das ein Verlassen jener häuslichen Ordnung, die in ihrem eigenen bürgerlichen Leben ihre Fortsetzung findet. Doch auch in dem Hafencafé findet das „Fortgehen und Fliehen“ nur einen Übergangsraum für jene innere Flucht, die territorial nicht mehr fassbar ist.
Mit Moderato cantabile begann Marguerite Duras ihren ganz eigenen Stil auktorialen Erzählens – ohne allwissenden Erzähler, ohne psychologische Erklärungen für das Tun der Charaktere und offen für die Imagination des Lesers. Ein Verbrechen am Hafen, eine Sonate, die existenzielle Widersprüche in einem musikalischen Motiv zusammenfasst, und dann der plötzliche Wunsch der Frau, ihr bisheriges Leben aufzukündigen. Peter Brook benutzt die offene Struktur des Romans, um ihn mit seiner eigenen Interpretation zu füllen, erfindet neue Schauplätze und modifiziert die Handlung. Mit Jeanne Moreau und Jean Paul Belmondo finden die Charaktere des Buches zudem prägnante Entsprechungen, die noch heute die Lektüre des Buches prägen.
Siegrun Appelts Projekt indessen ignoriert den existenten Film und nimmt den Roman als Ausgangspunkt eines neuen, aus der Reskription des Textes resultierenden Settings. Im Zentrum stehen die Räume des Buches: das Café am Hafen (auch das ein maritimer Raum) und das Zimmer, in dem der Sohn von Anne Desbaresdes Klavierstunden erhält. Die deskriptive Unschärfe, die dem wie ein polyphones Spiel der Stimmen angelegten Roman unterliegt, lässt die konkrete Ausgestaltung dieser Räume offen. Appelts verschiedene, an dem Projekt beteiligte „Leser“ sind deshalb mit der Aufgabe konfrontiert, diesen Räumen in mehreren Schritten zu nachvollziehbarer Visibilität zu verhelfen. Sie selbst werden zu Gestaltern eines abstrakt „filmischen“ Szenarios, das ihre Lektüre repräsentiert. Die imaginären Bilder, die beim Lesen des Romans entstehen, in eine konkrete Form zu überführen, heißt allerdings auch, sich auf eine Lektüre festzulegen und die semantische Offenheit des Textes punktuell aufzukündigen. Das Lesen des Buches meint ja kein lineares Nachvollziehen der Intentionen seiner Autorin, sondern die interpretative Aneignung eines Textes, die bei jedem Leser einen anderen Text produziert. Überdies wird in dem Roman von Duras die Ausgestaltung der Räume, die eher psychologische als konkrete sind, fast vollständig an den Leser delegiert. Wie die Interieurs aussehen, bleibt sekundär, handelt es sich doch um metaphorische Konstrukte, die für unterschiedliche soziale Schichten, Lebensentwürfe und psychische Verfasstheiten stehen. Der Film, aber auch die „Leser“ in Siegrun Appelts Projekt hingegen müssen diese Metaphern visualisieren und sich für einen konkreten Raum entscheiden, ihn möblieren, beleuchten, atmosphärisch verdichten.
Die am Computer generierten Räume, in denen sich diese imaginierten Romanschauplätze manifestieren, sind menschenleer. Sie strahlen jene kühle Artifizialität aus, die solchen additiv zusammengesetzten Konstruktionen eigen ist. Virtuellen Orten gleich, präsentieren sie sich als architektonische Versuchsanordnungen mit der Möglichkeit konstanter Veränderung. In ihrer distanzierten Fremdheit machen sie aber auch klar, dass der Betrachter das Szenario mit seiner eigenen Imagination auffüllen muss, denn die Imagination der ursprünglichen „Leser“ hat in dem mehrfachen Transformationsprozess von der Lektüre in die verbale Artikulation, die Umsetzung in Zeichnungen und schließlich in virtuelle Architekturen sichtbar gelitten. Gerade dieses vermeintliche Defizit als erkennbare Unmöglichkeit, die auf einem multiplen Set persönlicher und kollektiver Erfahrungen beruhende Leseerfahrung nachvollziehbar darzustellen, verweist jedoch auf die grundsätzliche Diskrepanz zwischen dem eigenen Vorstellungsvermögen und seiner intersubjektiven Vermittlung. Selbst die Erinnerung verändert sich, je konkretere Form sie findet: In den Interviews beschreiben die verschiedenen Teilnehmer Aspekte des Musikzimmers und des Cafés, die in den am Computer konstruierten Räumen später gar nicht mehr oder völlig anders auftauchen. Letztere sind durch vielfältige Transformationsprozesse gegangene Räume, die jenen für das moderne Kino charakteristischen „leeren“ Räumen gleichen und dem (filmischen) Bild fast schon eine „archäologische“ oder „stratigrafische“ Qualität, wie Deleuze sie nennt, verleihen: „Ein leerer Raum ohne Figur (oder ein Raum, in dem die Figuren von der Leere zeugen) besitzt eine Fülle, der nichts mangelt. Die abgetrennten, voneinander abgekoppelten Raumfragmente sind Gegenstand einer spezifischen Neu-Verkettung über den Intervall hinweg: Die fehlende Übereinstimmung ist lediglich das Sichtbarwerden einer Verbindung, die sich auf unendlich viele Weisen herstellen kann. Geht man von diesem Verständnis aus, dann kann das archäologische oder stratigrafische Bild zur gleichen Zeit gelesen und gesehen werden. Wenn die Bilder sich nicht mehr ‘auf natürliche Weise’ verketten, ... dann könnte man sagen, dass sich die Einstellungen selbst ‘drehen’ oder ‘umkehren’ und dass ihre Wahrnehmung ‘eine beträcht-liche Anstrengung des Gedächtnisses und der Imagination, anders gesagt, eine Lektüre erfordert’.“(5)
Während das Lesen eines Buches dem Verfassen eines eher dem Traum als dem konventionellen Film ähnelnden Skriptes gleicht, verabsolutiert der Film die Lektüre des Regisseurs. Doch da die Dinge im Film immer mehr sind als sie selbst und der Zuschauer immer nur diskontinuierliche Teile des Raumes wahrnimmt, gibt es auch hier Platz für die subjektive Aneignung dessen, was man sieht. Diesen Raum zwischen den „realen“ Bildern und den ergänzenden Bildern der je eigenen Imagination, der Lektüre, präsentiert die Installation von Appelt als abstrakte Anordnung virtueller Räume und rekapitulierter Erinnerungen. Wir bewegen uns zwischen den klar konstruierten, leeren Entwürfen und hören die Stimmen derer, die ihre inneren Bilder in eine gestaltete Form zu bringen versuchten. Die Abwesenheit der Romanfiguren, die diesen Räume ihre psychologische Dimension verleihen, bildet die „Leerstelle“, die zur Kompensation des Absenten durch den Betrachter animiert.
Die fotografischen und filmischen Arbeiten von Siegrun Appelt setzen oft auf diese Kraft visueller Rekonstruktion von Wirklichkeit im Akt der Betrachtung. Ihre verschiedenen Zug-Videos beispielsweise liefern abstrakte sensorische Daten, die vom Betrachter mit der eigenen Seherfahrung abgeglichen werden müssen, bevor ein wieder erkennbares Bild entsteht. Auch ihre auf wenige Details fokussierten Fotografien von Hotelzimmern liefern ein fragmentarisches Bild, das auf die Erinnerung des Betrachters an ähnliche Räume setzt. Sehen, Erkennen und Erinnern treten dabei in einen vielschichtigen Dialog, der auf subtile Weise sichtbar macht, wie komplex unsere Wahrnehmung von „Welt“ und ihrer fiktiven Doubles letztlich ist, wie sich das aktuelle Bild mit dem eigenen, virtuellen Bild überlagert, die anfängliche Beschreibung sich verdoppelt, erneut beginnt, ja sich widerspricht.

(1) Vgl. Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt am Main 1991, S. 330.
(2) Ebd., S. 329.
(3) Ebd., S. 329f.
(4) Moderator Cantabile, Frankreich 1960, Regie: Peter Brook, Drehbuch: Marguerite Duras und Gérard Jarlot.
(5) Deleuze, a.a.O., S. 313f., am Ende des Zitats mit Bezug auf Noël Burch.