Vorwort
Martin Hochleitner
Die vorliegende Publikation begleitet die Ausstellung von Siegrun Appelt in der Landesgalerie am Oberösterreichischen Landesmuseum in Linz.
Den Ausgangspunkt für das Gesamtprojekt bildete der Roman Moderato cantabile der französischen Autorin Marguerite Duras. Das 1959 erschienene Buch handelt von Liebe, Tod und Erinnerung:
„Eine Stadt am Meer, irgendwo. Eine Frau, Anne Desbaresdes, ist mit ihrem Sohn bei einer Klavierlehrerin. Schreie auf der Straße. Im Café darunter hat ein Mann eine Frau erschosssen. Man sagt, sie habe es von ihm verlangt. Anne betritt das Café. Sie kehrt in den folgenden Tagen immer wieder dahin zurück, unterhält sich in kurzen Sätzen mit einem Unbekannten über den Mord, über die beiden, wie es dazu kam. Die Grenzen zwischen dem fremden Schicksal und ihrem eigenen verfließen. In ihrer Beziehung zu dem Unbekannten scheint sich das Verhältnis der Ermordeten zu ihrem Mörder wiederholen zu wollen.“
Siegrun Appelt gab diesen Roman verschiedenen Personen ihres persönlichen Umfeldes zu lesen. Insgesamt waren es neun: ein Komponist, eine Konservatorin, eine Medienkünstlerin, ein Schauspieler, eine Architektin, eine Kostümbildnerin, zwei Künstler, sowie ein Publizist. Die Übergabe des Lesestoffes bildete den Beginn eines Kommunikationsprozesses, in dem Appelt jeden einzelnen um eine exakte räumliche Beschreibung der beiden zentralen Handlungsorte des Romans bat. Konkret ging es um das Café und das Musikzimmer. Die jeweils von der Künstlerin auf Video dokumentierten Gespräche wurden dabei so detailliert geführt, dass nicht nur Architektur, Raumsituation und Einrichtung, sondern auch Lichtführung und Atmosphäre behandelt wurden.
Was in der Ausstellung in Form von Aufnahmen dieser Gespräche gezeigt wird, bildete im Rahmen des Gesamtprojektes die Grundlage für eine optische Rekonstruktion bzw. Visualisierung dieser Vorstellungsbilder der Leser durch Appelt. Vergleichbar mit der Anfertigung von Phantombildern führte sie eine Fülle an deskriptiven Informationen am Computer zu einem Bild zusammen.
In der Landesgalerie sieht man Projektionen mit Visualisierungen dieser Räume. Eine Vorstellung von dieser Werkform liefern entsprechende Abbildungen im vorliegenden Katalog.
Das Bemerkenswerte am Projekt Moderato cantabile ist die Tatsache, dass Appelt vor dem Hintergrund einer literarischen Vorlage mehrere Grundtendenzen der Gegenwartskunst präzise zusammenführt. Abgesehen von der prozessorientierten Anlage des Gesamtprojektes, den komplexen Kommunikations- und Rechercheabläufen, den differenzierten Möglichkeiten an Werkformen und ihrem installativen Zusammenführen in der konkreten Ausstellungssituation, gehört dazu vor allem Appelts Annäherung an einen Modellbegriff, der sich zwischen Bild und Wirklichkeit bewegt. Das Entscheidende an der seit 2001 konzipierten Arbeit ist die optische Realisierung einer imaginierten Wirklichkeit Dritter. Appelt beschreitet damit den Zustand eines transitorischen „Da-Zwischen“ (Stephan Berg) von Konstruktion und Rekonstruktion: Ununterbrochen agiert sie in unterschiedlichsten Annahmen von Autorenschaft und überbrückt differenzierte Zwischenstufen von beschriebenen und konstruierten bzw. recherchierten und rekonstruierten Räumen. Oder anders gesagt: Das Spannende ist bei jedem einzelnen Bild das Changieren zwischen dem Vorstellungsbild des Lesers, der Wirkung der von Marguerite Duras beschriebenen Situation und der durch Appelt strukturierten Visualierung von Räumen.
Selbst als Modell begriffen erweist sich das Projekt Moderato cantabile von Siegrun Appelt als ein künstlerisches Äquivalent zum Höhlengleichnis Platons. Als Gespräch zwischen Sokrates und Glaukon angelegt, beschrieb Platon mit dieser Geschichte den Unterschied zwischen Schein und Sein vor dem Hintergrund eines Bereichs der Sinnlichkeit und der geistigen Welt. Appelts Methode lässt sich problemlos in die von Platon skizzierten Erkenntnisbedingungen von Sein, Ich und Idee einbinden speziell hinsichtlich der Bedeutung der Wiedererinnerung für die Erkenntnis.
Daneben berührt sie mit dem von ihr als Projekt angelegten Prozess die drei Hauptrichtungen des philosophischen Fragens: Sie thematisiert die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung im Nicht-Ich (Gruppe der Leser) sowie im Ich (künstlerische Umsetzung) und behandelt gleichzeitig die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung (Wirkung der literarischen Vorlage).Was in der Philosophiegeschichte mit Seins-, Ich- und Geistphilosophie als die drei Hauptrichtungen der pilosophia perennis zusammengefasst wird, bildet einen interessanten Rezeptionsansatz für ein Projekt, dessen Zustandekommen insgesamt nur aus dem Zusammenwirken vieler Menschen möglich wurde.
Somit möchte sich die Landesgalerie bei allen Projektbeteiligten bedanken: den Gesprächspartnern von Siegrun Appelt, den Autoren des vorliegenden Buches, Gerold Tagwerker für die Ausstellungsarchitektur, Ivo Apollonio für die virtuelle Visualisierung, Beat Furrer für die Einspielung eines Ausschnittes aus seiner Oper Invocation, den er diesem Projekt widmete.
Der besondere Dank gilt Siegrun Appelt für die Möglichkeit, ihre Idee über viele Monate in der Konkretisierung zu begleiten und nunmehr in der Landesgalerie zeigen zu können.
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