Moderato cantabile (zum Buch von Marguerite Duras)

Interviews mit den Teilnehmern

Gerold Tagwerker

– Chauvin steht, glaube ich, nicht auf, sondern spricht Anne vom Sitzplatz aus an.
– Die Schank hat zwei eingelassene Waschbecken und einen Zapfhahn, dieses Möbel sehe ich ganz konkret.
– Ich glaube, dass das Musikzimmer eher leer ist. Es hat einen kargen, etwas verstaubten Charakter.

Eine Hafensituation – Molen, die vom Boulevard ins Meer hinausführen – längere und kürzere. Die gibt es allerdings nicht als konkretes Bild in meinem Kopf. Es gibt nur die Idee, dass sie da sein müssen, weil Städte eben so funktionieren. Auch den Weg der Anne von ihrer Villa zum Café habe ich nicht konkret vor mir. Hier ist das Haus, in dem die Klavierlehrerin wohnt. In einem höher gelegenen Stockwerk befindet sich das Musikzimmer, im Nebenhaus liegt ebenerdig das Café. Dieses Nebenhaus ist größer und hat im unteren Bereich Geschäftslokale. Davor ist ein Gehsteig, eine Straße, auf der Autos fahren, dann kommt das Wasser, das Meer.

Die alte Erinnerung (vom ersten Lesen vor ein paar Jahren; Anm.) ist sehr italienisch. Da ist es kein Kaffeehaus, eher eine Weinstube oder eine Bar, die im unteren Teil bis auf ca. 1,20 m blau-grün gestrichen ist, ein Ölanstrich. Der obere Teil ist weiß gestrichen und es gibt einen Holzfußboden. Beim ersten Lesen war es schon etwas eher Schäbiges, Schmieriges, also kein Kaffeehaus mit Ambiente, eher ein Platz, der frequentiert wird von Leuten, die von der Arbeit kommen oder zur Arbeit gehen und schnell einen Kaffee oder ein Glas Wein nehmen.
Dann, beim zweiten Lesen, sah ich das anders. Das hat vielleicht damit zu tun, dass man sich Jahre später auch anders bewegt. Da habe ich das als sehr Wienerisch empfunden, nicht als Wiener Kaffeehaus, sondern als Wiener Stehweinstube, Branntweiner oder Espresso, als miesen, schmuddeligen Ort.

Das erste Lokal war von der Raumaufteilung und von der Nüchternheit gleich, nur habe ich den Ölanstrich durch eine Holztäfelung ersetzt. Dadurch wird das Licht ein wenig anders, der Raum erscheint eher dunkel, irgendwie düster. Die Wände sind nicht mehr wirklich weiß, sondern verraucht gelblich.

Das Café ist nicht groß. Es hat zwei quer verlaufende längliche Fenster, dazwischen ist die Eingangstür. Wenn man hereinkommt, läuft man direkt auf die Schank zu, die relativ nahe bei der Tür steht. Die Schank hat zwei eingelassene Waschbecken und einen Zapfhahn – dieses Möbel sehe ich ganz konkret. Es ist ein rechteckiges Möbel; im oberen Bereich besteht es aus Aluminium, aus Nirosta, einem hoch polierten Metall, das aber mittlerweile matt ist. Darauf stehen Flaschen und Gläser. Der untere Teil besteht aus nachgedunkeltem Holz, ein bisschen schmuddelig. Dahinter ist die Wand mit einer Tür zu den Klos und dem Eingang in das Extrazimmer.
Drei Kugellampen hängen von der Decke herab. Du hast nirgendwo direktes Licht auf den Tischen und es gibt keinerlei Schmuck. Der einzige Schmuck ist ein Spiegel über der Schank, der ein wenig nach vorne gekippt ist und die gleiche Breite hat wie die Schank. Es gibt keine Bilder, keine Vorhänge, keine Blumen, oder sonst etwas. Es gibt auch keine Regale hinter der Schank. Die ganze Arbeit wird auf der Schankfläche gemacht.
Beim ersten Mal ist das Lokal leer. Chauvin sitzt auf einem Stuhl im vorderen Bereich und hat Sichtkontakt zur Wirtin, die hinter der Bar steht. Sie ist eher eine mollige, ungepflegte Person. Anne kommt herein, geht an die Schank, redet mit der Wirtin, bekommt ein Glas, trinkt es im Stehen und dann entwickelt sich der Dialog mit Chauvin. Der steht, glaube ich, nicht auf, sondern spricht sie vom Sitzplatz aus an. Die Entfernung ist gering, ungefähr zwei Meter. Sie setzt sich nicht direkt neben ihn, sondern hält einen gewissen Abstand, sodass sie durch die Tür hinausschauen, das Kind beobachten kann, das irgendwo draußen ist. Später sehe ich die beiden im Extrazimmer sitzen, das auch diese Holztäfelung hat. Dieser Raum ist klein, dreimal vier Meter, da haben nur zwei Tische Platz.

Anne ist nicht wirklich schön. Sie ist schlank, zierlich, hat dunkle, halblange Haare, die meistens zusammengesteckt sind. Sie steht für eine gewisse Gesellschaftsschicht, ein Klischee von verheirateter junger Frau, apart, adrett, gut gekleidet, mit Stil, ohne dabei besonders interessant zu sein. Sie ist eine unterforderte Frau, die nicht wirklich weiß, was sie machen könnte. Sie wurde wahrscheinlich ihr Leben lang in verschiedene Rollen gedrängt, vom Töchterchen aus besserem Haus zur Ehefrau eines Bürgerlichen oder eines Industriellen, dann in die Rolle der Mutter.

Ich glaube, dass das Musikzimmer eher leer ist. Es hat einen kargen, etwas verstaubten Charakter. Es gibt einen Holzfußboden, der zwar sauber, aber abgetreten ist. Anne sitzt auf einem Stuhl und schaut zum Fenster hinaus. Die Mademoiselle Klavierlehrerin ist ständig in Bewegung. Vor dem Fenster hat sie einen Tisch, an den sie sich manchmal setzt – einen Schreibtisch aus Holz, einen Vierbeiner mit zwei Schubladen, aber meistens bewegt sie sich und macht damit das Kind nervös. Anne hat auch dabei eine eher passive Rolle. Ohne viel zu tun, allein durch ihre Anwesenheit beeinflusst sie die Beziehung zwischen dem Kind und der Mademoiselle. Sie schaut oft aus dem Fenster. Auch der Kleine schaut hinaus, weil ihm das Ganze auf die Nerven geht. Er ist nicht gerne in dieser Situation, deshalb versucht er sich abzulenken oder zu beruhigen. Er sieht die Schiffe vorbeifahren und die Wolken vorbeiziehen. Die Schiffe sehe ich nicht konkret, aber ich habe das Bild des Fensterrahmens mit einem Drittel Wasser und zwei Drittel Himmel und Wolken.