Moderato cantabile (zum Buch von Marguerite Duras)

Texte

Meine Vorstellungen von den Vorstellungen der Anderen
Harald Welzer

„Sie steht am Tisch, und ich sehe die Karaffe in ihrer Hand, mit der sie die Gläser füllt.“ (Siegrun Appelt)

Ich habe das Buch von Marguerite Duras nicht gelesen, das die Grundlage von Siegrun Appelts Arbeit Moderato cantabile bildet. Um ehrlich zu sein: Ich habe auch die Ausstellung nicht gesehen, wenigstens nicht in Wirklichkeit, sondern nur auf dem Bildschirm meines Computers. Es gibt das Buch von Duras, und es gab die Ausstellung; tatsächlich hätte ich beides zur Kenntnis nehmen können, aber ich habe es nicht getan, und erlaube mir trotzdem, einen Text über Siegrun Appelts Arbeit zu verfassen.
Dieser Versuch über das Nicht-Gelesene und Nicht-Gesehene ist auf den ersten Blick nur zu rechtfertigen, weil Appelts Arbeit selbst sich um die Frage dreht, wie denn eigentlich Bilder, Vorstellungsbilder in unsere Köpfe kommen, und wie es möglich ist, dass wir problem- und mühelos mentale Transferleistungen vollziehen können, die atemberaubend sind: Die Verarbeitung schwarzer Zeichen auf dem weißen Papier einer Buchseite durch unser visuelles System führt umstandslos zur Imagination einer Kneipenszene an einem Ort und zu einer Zeit, die beide mit unserer physischen Existenz nicht das Geringste zu tun haben. Wir sind darüber hinaus ohne weiteres in der Lage, uns die Gesichter, Stimmen, Gesten der handelnden Personen vorzustellen, uns in ihre Gedanken zu versetzen, uns den Geruch der Kneipe, das Gefühl beim Betreten ihres Fußbodens zu phantasieren – und das alles lediglich auf der Basis dessen, dass wir uns ein aus einer anderen Sprache übersetztes Büchlein in Erinnerung rufen, das zu einer Zeit geschrieben wurde, als die meisten von uns noch nicht einmal auf der Welt waren.
Aus wievielter Hand sind denn diese meine Bemerkungen? Sie gründen sich ja nicht einmal auf Duras’ Buch, sondern auf die mir zugänglich gemachten Vorstellungen über das Buch durch diejenigen, die in Appelts Projekt einbezogen waren – und die habe ich wiederum medial zur Kenntnis genommen, wobei ich, nun ja, eine Vorstellung von den Vorstellungen anderer Menschen gewonnen habe, und zwar von solchen, die sich auf die Vorstellungen von Marguerite Duras richteten…
Ich habe mithin eine Vorstellung vierter, fünfter, sechster Hand entwickelt, behaupte nun aber, diese fünfte oder sechste Mediatisierungsstufe ist nicht weiter entfernt vom Original als die erste oder zweite: Weil wir so funktionieren. Weil das Gehirn ein Organ ist, das assoziativ arbeitet, indem es Informationen, die über die Sinne aufgenommen werden, mit bereits Erfahrenem und Bewertetem abgleicht. Das gilt nicht nur für Menschen, sondern für jedes Lebewesen. Dieser Abgleich wird deshalb ohne Unterlass vorgenommen, weil es für unser Überleben sinnvoll ist, jede eingehende Information daraufhin zu prüfen, ob sie gewöhnlich oder ungewöhnlich, wichtig oder unwichtig, gefährlich oder ungefährlich, interessant oder uninteressant ist.
Wenn wir uns nun von diesem basalen Niveau des automatisch ablaufenden cerebralen Informationsabgleichs auf die höheren Ebenen der bewussten Verarbeitung von Informationen, Ereignissen, Texten begeben, finden wir denselben Vorgang – nur mit dem Unterschied, dass nun mit jedem Assoziationsvorgang Fragmente, Bilder, Erinnerungen abgerufen werden, die zu dem „passen“, was uns gerade begegnet: Die Zeilen von Duras werden also nicht „aufgenommen“, sondern egozentrisch dem zugeordnet, was wir dazu immer schon zu denken haben, was uns dazu einfällt.
Sich „Vorstellungen machen“ ist ein Vorgang der Aktivierung vorhandener neuronaler Verschaltungsmuster, die zusammen mit der neuen Information ein neues Muster bilden. Schon intuitiv leuchtet ein, dass dieser Prozess eine höchst komplexe und konstruktive Leistung des Gehirns darstellt, und weil dieser Prozess in sich ein assoziativer ist, sind wir in der Lage, unablässig neue Bilder in unserem Kopf entstehen zu lassen, die höchst kunstvolle Montagen von Neuem mit Vorhandenem darstellen.
Appelts Arbeit zeigt genau das, aber auch noch etwas anderes, das weit über diesen an sich schon sehr faszinierenden Aspekt hinausgeht: Dass wir in der Lage sind, unsere individuellen Vorstellungen aufeinander zu beziehen – in einem Gespräch zusammenzuführen, in visuelle Bilder zu übersetzen, sie uns wechselseitig verfügbar zu machen, unsere Vorstellungen auszutauschen. Appelts komplexe Rekonstruktion der auf Duras’ Vorstellungen zurückgehenden Vorstellungen einer Reihe von Menschen bringt also alles wieder in Verbindung, was von den einzelnen Beteiligten assoziiert wurde – eine Laborsituation der experimentellen Untersuchung von Vorstellungsbildern. Und diese Situation nun ist eine wunderbare Allegorie darauf, dass es nicht wir als Individuen sind, die unsere Vorstellungen zusammenhalten und die aus einem überkomplexen Inventar aus Bildern, Tönen, Tasteindrücken, Erfahrungen, Erinnerungen jederzeit etwas zu einer Einheit synthetisieren können, sondern dass diese Konstruktion einer Einheit prinzipiell in einem Raum stattfindet, der von anderen gebildet wird.
Menschliches Denken ist durch und durch sozial; seine immer nur vorläufigen Ergebnisse bedürfen der beständigen Überprüfung und Bestätigung durch die anderen, und das ist in den meisten Fällen so ganz und gar selbstverständlich, dass uns das überhaupt nicht auffällt. Die neurowissenschaftliche Gedächtnisforschung bezeichnet die neuralen Aktivierungsmuster, die zu einer Vorstellung oder einer Erinnerung gehören, als „Engramme“; Engramme repräsentieren auf Hirnebene die Spuren all unserer Erlebnisse und Erfahrungen. Mir scheinen aber, und das zeigt Appelts Arbeit nachdrücklich, die „Exogramme“ die wichtigeren Elemente des gesamten Fundus zu sein, aus dem sich unser Bewusstsein zusammensetzt: die von Menschen, die vor uns da waren, bereitgestellten Spuren der Geschichte, die Geschichten, die Gegenstände, die Worte, Gesten – sie alle sind höchst lebendige und verfügbare Spuren aktivierbarer Vorstellungen und Erinnerungen, auf die wir jederzeit zugreifen können und zugreifen.
In diesem Sinn liefert Duras’ Roman ein Exogramm, mit dem unser assoziatives Organ der Welterschließung sofort zu arbeiten beginnt. Und, wie gesagt, ich habe diesen Roman noch nicht einmal gelesen, aber Sie sind als Leser dieses kleinen Textes in der Lage, meinen Gedanken über einen nicht gelesenen Text und eine nicht gesehene Ausstellung zu folgen. Ich glaube, wir stehen nur deshalb nicht ständig mit vor Staunen offenem Mund vor solchen Vorgängen, weil sie die selbstverständlichen Grundlagen unserer sozialen Existenz bilden – und auch unserer permanenten Existenz in Vorstellungs- und Möglichkeitsräumen. Appelts Arbeit zeigt dieses Selbstverständlichste, und das ist ganz und gar ungewöhnlich und überzeugend.