Moderato cantabile (zum Buch von Marguerite Duras)

Interviews mit den Teilnehmern

Bernhard Kellner

– Beim Lesen ist die Frau nur schattenhaft da, es bildet sich nicht wirklich ein Gesicht ab.
– Ich ziehe jetzt eine Diagonale, das obere Dreieck ist der Aktionsraum, die andere Hälfte bleibt vage.
– Es ist die Welt der gestickten Zierdecken, der schönen Wandbilder, die immer hundertprozentig gerade hängen.

Ich fange an mit dem Hafenplatz: Meer/Festland, eine ‚Saumsituation’, so könnte man das Blatt horizontal teilen. Vertikal könnten wir es teilen in Arbeitswelt, Hafenanlage, Fabrik etc. auf der einen Seite und Villenviertel, ‚bessere Welt’ auf der anderen. Auf der Hafenseite gibt es einen großen Platz mit Stegen, die ins Meer hinausführen. Es wird beladen und entladen, hier liegen alte Kähne, Fischerboote usw. Gegenüber liegt eine Häuserzeile – hier mischen sich Klischees herein – mit schönen Fassaden, rechteckigen Fenstern, Loggien und Holzbalken.

In einem dieser Häuser ist das Café, ebenerdig oder im Souterrain. Im zweiten Stock des Nebenhauses befindet sich das Klavierzimmer. Das ist der Ort, an den die Heldin Anne ihr Kind zur Klavierstunde bringt. Während der Klavierstunde sind die Fenster geöffnet, Lärm dringt herein, Polizeisirenen, Aktion... – man fragt sich, was los ist, sieht eine tote Frau, erfährt, dass sie erschossen wurde. Und – der Skandal – man erzählt sich, die Frau sei auf eigenen Wunsch hin erschossen worden.
Der Mord hat sich im Café abgespielt. Zunächst ist da ein rechteckiger Raum. Die Tür steht offen und gibt den Blick auf das Hafenleben frei. Im Raum ist eine Bar, eine Theke. Ich stelle mir vor, dass sie weit in den Raum hineinreicht. Links vom Eingang könnte eine Telefonzelle sein, ein alter Münzapparat, daran schließt das Reich der Wirtin an, der Chefin dieses Cafés. Sie ist die stumme Beobachterin der Vorgänge. Sie kennt Anne vom Sehen und Vorbeigehen, Chauvin ist ihr Stammgast, der jeden Tag auf demselben Platz sitzt. Sie ist eine ältere Person mit einer gewissen Grundverbitterung. Sie macht sich keinerlei Illusionen. Hinter der Bar hat sie ihr Strickzeug. Damit werkt sie herum und verliert dabei nie aus den Augen, was im Lokal passiert.

Den Kaffeehausraum stelle ich mir zweigeteilt vor, ich weiß aber nicht, wie diese Zweiteilung funktioniert. Vielleicht gibt es eine Säule in der Mitte, andererseits stört mich diese Säule. Hier stehen jedenfalls Tische, die sich am Abend mit Arbeitern aus der nahe gelegenen Werft füllen. Dieser eine Tisch ist ein besonderer, da sitzt Chauvin. Wenn ich mich recht erinnere, hat er als Eisenbieger in der Fabrik gearbeitet. Er ist eine Gestalt um die 50 mit einem markanten Gesicht, ein großer Schweiger. Auch er kennt Anne vom Vorbeigehen. Eine Frau aus dem besseren Milieu fällt hier auf.
Ich ziehe jetzt eine Diagonale durch den rechteckigen Grundriss. Das obere Dreieck ist der Aktionsraum, die andere Hälfte bleibt vage. Hier vor der Theke lag die Ermordete, neben oder über ihr der Mörder, der das alles nicht gepackt hat und darüber verrückt wurde. Hier spielen sich auch die Interaktionen zwischen der Wirtin und Chauvin ab, die irgendwie Verbündete sind, auch wenn nie klar wird, worin ihr Bündnis liegt. Dieser Raum wird mehr und mehr zum Schicksal der Anne, die sich von ihm magisch angezogen fühlt.

Beim ersten Lesen ist diese Frau nur schattenhaft da. Fix ist, dass sie blond und hellhäutig ist, aber es bildet sich nicht wirklich ein Gesicht ab. Statur und Mimik ergeben sich aus der Aktion und aus Sätzen wie „Sie senkt ihren Blick“ oder „Sie reagiert verlegen“. Zuerst traut sie sich nur an die Bar. Sie will etwas erfahren: Was ist passiert? Sie bleibt irgendwie auf dem Geschehnis hängen und will immer genauer wissen, was da los war. So kommt sie mit der Wirtin und Chauvin ins Gespräch. Mit ihm spinnt sie dann die Geschichte weiter.

Im Raum gibt es verschiedene Lichtstimmungen. Ich sehe vor allem warmes Abendlicht. Es ist kein aufgeräumter Raum, Flaschen, Kisten, Gläser usw. stehen herum. Wenn man gegen das Licht schaut, wird der Staub in der Luft strahlenförmig sichtbar. Es herrscht eine ruhige Stimmung, der hintere Teil des Raumes, wo Anne und Chauvin sitzen, liegt im Halbdunkel.

Der Raum vor dem Café wird mehr und mehr zum Spielplatz des Sohnes, der sofort kapiert, dass mit seiner Mutter etwas los ist. Schon als sie zum ersten Mal den gleichen Weg einschlagen, nicht um zur Klavierstunde, sondern ins Café zu gehen, weiß er, dass sie jetzt öfter hierher kommen werden. Und das wird dann tatsächlich zum Entfaltungsraum für das unbeaufsichtigte Kind. Hier kann er die Melodien, die er bei der Klavierstunde nicht spielen kann, perfekt pfeifen, hier schließt er kleine Freundschaften und zwischendurch schaut er nach, was im Café so los ist. Für ihn öffnet sich da eine abenteuerliche, weil unkontrollierte Welt.
Das Klavierzimmer ist der Kontrapunkt zum Café und seiner Umgebung. Ein aufgeräumter Raum mit zwei Fenstern zum Hafen. Wieder haben wir eine diagonale Raumtrennung, der obere Teil ist der Aktionsraum. Es ist die Welt der gestickten Zierdecken, der schönen Wandbilder, die immer hundertprozentig gerade hängen. Vor dem Flügel steht die gestrenge Lehrerin, auf dem Sofa sitzt die liebende Mutter. Es gibt verschiedene Interaktionslinien; einerseits dieses ambivalente Verhältnis zwischen Mutter und Sohn – irgendwie findet sie seine Bockigkeit ja toll –, andererseits läuft da der eher verzweifelte Erziehungsdiskurs zwischen Mutter und Lehrerin.