Moderato cantabile (zum Buch von Marguerite Duras)

Interviews mit den Teilnehmern

Bear Furrer

– Vorstellungen von Kneipen, die ich kenne, mischen sich mit Vorstellungen, die aus der Beschreibung im Buch entstehen.
– Ich glaube, die Leiche lag vor dem Café.
– Der Kleine sitzt am Klavier, sollte die Sonatine spielen, schaut aber zum Fenster hinaus und sieht die Wolken.

Diese Kneipe stelle ich mir als einen düsteren Raum vor, mit einer Theke im Hintergrund und einer Wirtin, einen roten Pullover strickend. Das finde ich wunderbar, wie alle diese Dinge zwar Symbole sind, z.B. dieser rote Pullover, aber Zugleich eine unheimliche Leuchtkraft kriegen. Der rote Pullover zählt nicht nur als Symbol, sondern auch als Gegenstand, der mit allen anderen Dingen in Beziehung gebracht wird. Ich stelle mir dazu die Schleppkähne im Hafen vor, die Kräne und Schlote der Gießerei. Das alles gehört zur Welt des Chauvin.

Das Café stelle ich mir klein vor. Ich weiß nicht, ob das den beschriebenen Tatsachen entspricht, aber ich stelle es mir als die übliche Hafenkneipe vor: ein paar Tische, Stühle usw. – da stimmen die Proportionen nicht, meine Fähigkeiten, das alles zeichnerisch darzustellen, halten sich in Grenzen. Hier treffen sich Chauvin und Anne. Vielleicht gibt es eine Tür in einen hinteren Raum. Und da geht es raus auf den Kai. Was meine Vorstellungen von dieser Kneipe betrifft, bleibt vieles im Halbdunkel. Vorstellungen von Kneipen, die ich kenne, mischen sich mit Vorstellungen, die aus der Beschreibung im Buch entstehen.

Türe, Schankbereich, Tische... – die Wirtin steht an der Bar. Der Boden ist aus Linoleum oder ein schon abgetretener, dunkler, aufgebrauchter Eichenparkettboden. Die Tür steht offen, man sieht aufs Meer hinaus. Die Männer kommen aus den Fabriken, Chauvin kehrt ihnen den Rücken zu. Ich glaube, die Leiche lag vor dem Café. Anne forscht den Ereignissen nach, und allmählich setzt sich dann diese Geschichte von der Frau zusammen, die darum bittet erschossen zu werden. Diese ganze Geschichte scheint sich zu wiederholen, aber das heißt natürlich nicht, dass Chauvin Anne deshalb umbringen muss. Zwar sagt er einmal „ich wünsche, du wärst tot“, aber das ist auch schon das Einzige.

Diesen Chauvin kann ich äußerlich nicht beschreiben. Er ist weniger ein schöner Mann als ein Ort des Begehrens. In meiner Vorstellung ist sein Gesicht niemals mir zugewandt, das hat natürlich mit Duras zu tun, mit ihrer Art, ihn zu beschreiben. Duras lässt in ihrer Sprache die Dinge offen, Freiräume für Vermutungen. Manche Dinge bleiben einfach schwarze Löcher. So ist auch dieser Mann, Chauvin, für mich nur ein Schatten, der nie ein Körper wird, sondern immer nur das Auge bleibt.

Auch dieses Kind wendet sich mir nie zu. Ich sehe es eher als eine Kraft, die an Anne zieht. Es ist ein Teil von ihr. Für Anne geht eine ungebändigte, animalische, erotische Kraft von ihm aus. In meiner Vorstellung ist im Tun dieses Kindes etwas, das immer weiter will. Es zieht Anne fort. Kant schreibt einmal, dass in Kindern sehr viel mehr Tier innewohnt, als man annehmen würde – das ist es: diese gefährliche, noch ungebündelte Kraft. Insofern scheinen Chauvin und das Kind aus derselben Sphäre entstanden zu sein.

Wunderbar ist, dass die Figuren um Anne nie wirklich ein Gesicht bekommen, keinerlei Individualität entwickeln. Sie bleiben Schatten aus einem anderen Reich. Im Fokus dieser Kamera ist nur Anne. Das Kind, von dem sie einmal sagt „Ich glaube, ich habe es erfunden“, führt sie mit scheinbarer Leichtigkeit über alle Abgründe. Es spielt am Kai, während Anne in der Kneipe säuft, dann zieht es sie am Rockzipfel und sagt: „So, jetzt möchte ich nach Hause gehen“. Es ist ein sehr dünnes Eis zwischen diesen Welten der Anne, dieser dunklen Welt der Triebhaftigkeit und der scheinbar abgesicherten bürgerlichen Welt.

Das Café und das Haus der Klavierlehrerin sind in unmittelbarer Nähe. Die Wirtin hört das Klavierspiel des Kindes. Der Kleine sitzt am Klavier, sollte die Sonatine spielen, schaut aber zum Fenster hinaus und sieht die Wolken. Einmal ist der Sonnenuntergang beschrieben, das Klavier müsste also hier gestanden sein. Es ist allerlei Unrat da, wie eben eine Kleinstadtklavierlehrerin ihr Leben fristet; ein bisschen frustriert in ihrer kleinen, angeräumten Wohnung. Es hätte ja für sie alles viel besser kommen können. Sie hat jedenfalls sehr strenge Maßstäbe und macht sich keinerlei Gedanken darüber, warum dieser Kleine jetzt nicht üben will. Auch die Klavierlehrerin bleibt schemenhaft, das Klischee einer Klavierlehrerin.

Ob ich glaube, dass es zwei Fenster gibt? Es ist ein bisschen düster. Deshalb komme ich von den zwei Fenstern wieder ab. Also lassen wir hier nur ein Fenster sein. Ich stelle es mir so vor: Hier das Klavier, der Kleine, daneben die Lehrerin, die unruhig mit dem Bleistift spielt. Ein Bücherregal, sehr vollgeräumt, mit irgendwelchen Trophäen und Büchern, wahrscheinlich Sammelbände, gesammelter Shakespeare usw. Im Hintergrund gibt es ein Sofa, auf dem Anne sitzt und zuhört. Sie muss eine hübsche junge Frau sein, mit dunklen, halblangen Haaren, sehr begehrenswert. Ihre Haut ist ja auch immer wieder präsent, zum Duft der Magnolien kommen ihre fast entblößten Brüste. Es muss auf alle Fälle noch sehr viel Leben in ihr sein, nichts Abgeklärtes.